Corona – Bürgerschaftspolitik – Verkehr: Platz (ist) da!

Rund sieben Wochen sind wir jetzt mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie konfrontiert: Sorgen um die Gesundheit und in vielen Fällen um  den Arbeitsplatz oder die (Solo)Selbständigkeit, Kontaktver- und  Abstandsgebote, ausfallende Urlaube, Kneipen- und Theaterbesuche, und bei Menschen ohne eigenes, sicheres Obdacheine Vervielfachung der Probleme in der eh schon prekären Lebenslage …

Innerhalb von nicht einmal zwei Monaten hat sich auch die Politik in Hamburg grundlegend verändert: keine Zusammenkünfte von Initiativen und Beiräten, Parteimitgliedern und –arbeitsgemeinschaften, gerade mal  wieder erste, kleine Versammlungen, eingeschränkte  Bürgerschaftssitzungen usw. Von politischer Aufbruchsstimmung nach der Bürgerschaftswahl Ende Februar keine Spur. Die linke Opposition müht sich um öffentliche Resonanz (Mindestlohn rauf, Hotelunterbringung für Geflüchtete, Obdachlose, Sternbrücke und vieles mehr), hat’s aber schwer. Es ist die Zeit der Exekutive, Covid-19 beherrscht das Feld.

Zur Bürgerschaftssitzung am 22. April hat die Linksfraktion neun Anträge gestellt, die sich allesamt um bestimmte Corona-Aspekte drehen (die betreffenden Dokumente gibt es hier.

Für die nächste, weiterhin mit halber Belegschaft tagende Bürgerschaft am 6. Mai haben wir weitere Anträge eingebracht, u.a. zu der Öffentlichkeit der Bezirksgremien, zu den Volksinitiativen in Corona-Zeiten und für eine Corona-Kommission, an der verschiedene Wissenschaftsdisziplinen,
Gewerkschaften, die Stadtgesellschaft und die Opposition zu beteiligen sind. Außerdem gibt es einen Antrag zur Verkehrspolitik aus meiner Feder, den ich nachfolgend vorstellen will.

„Platz (ist) da – für mehr Fuß- und Radverkehr in Corona-Zeiten“ (Drs. 22/114 vom 22.4.2020, in der Parlamentsdatenbank hier zu lesen.

Es geht um mehrere Punkte: Zum einen ist das verfügte, allseits eingeforderte Mindestabstandsgebot von 1,50 Meter auf den allermeisten Fuß-  und Radwegen in Hamburg wegen der Enge überhaupt nicht einzuhalten. Da bedarf es unseres Erachtens also schnellstmöglicher Verbesserungen. Zum anderen empfinden viele Menschen die immer noch anhaltende, relative Leere aufden Straßen als Labsal. Kein Wunder, kaum noch Staus, deutlich weniger Lärm und Abgase. So hat sich beispielsweise die umweltverpestende Stickstoffdioxid-Konzentration (NO2) von Anfang März bis Mitte April bei einigen Hamburger Messstationen nahezu halbiert
(siehe hier).

Wäre doch schön, wenn diese Eindrücke verfestigt werden könnten! Doch, und das ist der dritte Punkt, droht das genaue Gegenteil. Willfried Maier, der Vorsitzende der Patriotischen Gesellschaft hat es jüngst auf den Punkt gebracht: „Die Ansteckungsgefahr führt dazu, dass das Auto mit sozusagen privatem, abgekapselten Innenraum gegenüber den Bahnen und Bussen, deren Raum öffentlich ist, wieder bevorzugt wird“ (siehe hier).

Tatsächlich meldete der HVV laut NDR vom 9. April massive Fahrgasteinbrüche seit Ausbruch des Coronavirus‘: „Minus 70 Prozent…Statt 2,6 Millionen Menschen täglich nutzen nur rund 800.000 Menschen den Verbund“.

Verhindern wir, dass das Auto wieder an Terrain gewinnt, nutzen wir die gegenwärtig gemachten Erfahrungen dafür, vernünftige verkehrspolitische Konsequenzen zu ziehen, kurz- wie langfristig. So fordern wir mit unserem Antrag, „den fehlenden lebensnotwendigen Abstand in den von FußgängerInnen gut bis stark frequentierten Bereichen zu ermöglichen, indem die Mitnutzung des Straßenraumes, z.B. als temporäre Begegnungszone, erlaubt wird.“

Auch temporäre Straßensperrungen halten wir für möglich, um gerade in dicht bebauten Wohngebieten mehr öffentlichen Raum und Abstandsmöglichkeiten für die Menschen zu schaffen. Auf breiten Straßen sollte zudem jeweils eine Spur pro Fahrtrichtung für RadfahrerInnen eingerichtet werden.

Wo möglich und sinnvoll, werden Vorrangzonen für FußgängerInnen und RadlerInnen mit Tempo 20 eingeführt, in ganz Hamburg wird Tempo 30 zur Regelgeschwindigkeit.

All diese Maßnahmen sind sofort anzugehen und mindestens für die Zeit der Beschränkungen aufrechtzuerhalten. Wir müssen den öffentlichen Nahverkehr, das Zu-Fuß-Gehen und insbesondere das Radfahren attraktiver machen, damit es den Menschen besser geht, die Umwelt- und Lebensqualität wächst und der Schutz gegen eine Virenübertragung wegen zu geringer Abstandsmöglichkeiten nachhaltig verstärkt wird. Bei diesen Orientierungen sehen wir uns übrigens Seite an Seite mit dem Allgemeinen
Deutschen Fahrradclub (ADFC) und dem Fuss e.V., dem Fachverband Fußverkehr Deutschland. Beide Vereine haben in den letzten Tagen ähnliche
Forderungen erhoben, beim ADFC heißt das dann: „COVID-19: Fahrradclub fordert mehr Platz für Menschen auf Straßen und Wegen“.

Diese Maßnahmen klingen für den einen oder die andere vielleicht allzu utopisch. Doch das Gegenteil ist der Fall, andere Metropolen machen es
uns längst vor, wie alternative Verkehrspolitik in Zeiten, ja, gerade in Zeiten von Corona gestaltet werden kann. Nehmen wir das rot-rot-grüne Berlin, das in den vergangenen Wochen sog. Popup-Bikelanes eingeführt hat, temporär eingerichtete Fahrradstreifen auf/an mehrspurigen Straßen.

Damit Kinder mehr Platz zum Bewegen mit Rollern, Fahrräder oder auch zum Spielen mit Straßenmalkreide haben, werden im Bezirk  Friedrichshain-Kreuzberg öffentliche Straßen zur Verfügung gestellt. Damit soll auch den Überlastungen der Parks und Grünanlagen entgegengewirkt werden. Unter dem Motto „Straßenland in Kinderhand“ werden ab dem 3. Mai bis zu 30 Straßen an Sonn- und Feiertagen für  Fahrzeuge gesperrt werden. BürgerInnen und Nachbarschaftsinis sorgen als PatInnen dafür, dass zwischen 12 und 18 Uhr der Straßenraum den  Menschen gehört. (hier). Brüssel geht noch einen Schritt weiter.

Nach Aufhebung der Ausgangssperren wird ab Mai die gesamte Innenstadt zur Vorrangzone für Fuß- und Radverkehr, die Höchstgeschwindigkeit für Autos und Busse beträgt dann in diesem Gebiet 20 km/h. Ab 2021 gilt im  gesamten Stadtgebiet Tempo 30. Selbst der ADAC berichtet über dieses Experiment der Vélorution und warnt lediglich davor, „dass die Stadt nun überrannt werden könnte und das Gegenteil von Distanzieren eintritt“.

Und dann haben wir da noch Wien, wo temporär Begegnungszonen geschaffen worden sind, Straßenbereiche, die von AutofahrerInnen, RadlerInnen und FußgängerInnen gleichberechtigt genutzt werden können – dieses Konzept erinnert an die frühere Idee von Shared-Space-Zonen, die vor etlichen Jahren auch schon mal in Hamburg im Gespräch waren. Laut ganz unaufgeregter Website des österreichischen Automobilverbandes sind im April zunächst 13 Straßen zu solchen Begegnungszonen erklärt worden.

Die Gunst der Stunde ist da, der Druck, Entlastung für die Menschen zu schaffen, gegeben. Wir brauchen mehr Sicherheit und mehr Abstand sofort.
Ich zitiere da gerne noch einmal Willfried Maier: „In der aktuellen Situation muss der Fahrradverkehr über das normale Maß hinaus begünstigt werden.

Fahrradfahren unterliegt nicht dem Ansteckungsverdacht wie der ÖPNV, und in den beginnenden Sommermonaten wird es auch angenehmer. (…) Provisorische Sperrungen und Umnutzungen von Spuren … wären bei gutemWillen rasch gemacht und könnten, sobald der ÖPNV wieder frei genutzt wird und der Radwegeausbau vorangekommen ist, auch wieder zurückgenommen werden.“ Der grüne Ex-Stadtentwicklungssenator ist seiner Partei damit weit voraus.

Aber am 6. Mai können GRÜNE und SPD ihre Lernfähigkeit beweisen und – hoffentlich nicht nur in Corona-Zeiten – mehr Sicherheit im Alltag zugunsten der RadfahrerInnen und FußgängerInnen durchsetzen. Unser Antrag liegt vor und wartet nur noch auf die Unterstützung und Umsetzung.